Jan Marc Nottelmann-Feil: On the Meaning of the Buddhist Liturgy [in German]
from: EKŌ-Blätter issue 32 (Autumn 2022), pp. 8-9 pdf-Datei

Sakrale Räume sind Orte des Hörens, und doch sind sie keine Universitätshörsäle. Sie sind Orte der Übung, und doch sind sie keine Yoga-Übungshallen, die man im Trainingsanzug betritt. Sakrale Räume, so könnte man sagen, sind einer bestimmten Form des Wissens geweiht, die sich in einer Liturgie ausdrückt. In christlichen Kirchen steht im Zentrum des Geschehens das Geheimnis der Eucharistie, wie schon am Altar zu erkennen ist, der einem Esstisch gleicht. Was aber ist das Geheimnis der Liturgien, die in buddhistischen Tempeln stattfinden?

Quer durch alle buddhistischen Konfessionen Japans ist das offizielle Wort für eine große Zeremonie hōe (法会), was wörtlich übersetzt „Dharmaversammlung“ heißt. Der Rezitationstext wird von den Japanern meist o-kyō (お経), d.h. Lehrrede des Buddha (Sūtra), genannt, fast unabhängig davon, ob es sich tatsächlich um eine solche Lehrrede handelt oder nicht. Dies legt den Gedanken nahe, dass das zentrale Geschehen in einem buddhistischen Tempel die Lehrversammlung eines Buddha ist. So wie in allen Sūtras am Anfang immer die Versammlung um den Buddha beschrieben wird, so sitzt bei der Zeremonie der Erwachte gleichsam im Kreise seiner Jünger und ruft zum Erwachen auf.

Während in der buddhistischen Meditation meist eine Kenntnis über die formlosen Bereiche angestrebt wird – in den tieferen Formen der Versenkung (Japanisch: zen 禅) erfährt der Übende Formlosigkeit –, verbleibt die Liturgie immer im Bereich der formhaften Welt, und es wird kein Versuch gemacht, von dort auszubrechen. Der Buddha wird meist durch eine sichtbare Buddhastatue repräsentiert, die beteiligten Mönche und Nonnen (bzw. Priester und Priesterinnen) tragen Zeremonialgewänder, die das Auge ansprechen. Klangschalen und anderes Schlagzeug kommen zum Einsatz, Weihrauch wird abgebrannt. So sind alle Sinne unablässig beschäftigt. Die Zeremonialmusik (gagaku 雅楽), die in Japan höfischen Ursprungs ist, ist von deutlich anderer Natur als das, was im Westen als Meditationsmusik geschätzt wird. Das ätherische Sirren der Mundorgel (shō 笙) hat etwas Aufreizendes, die Flöten (hichiriki 篳篥und ryūteki 竜笛) haben einen schneidenden Klang, und die Trommeln sorgen für eine dumpfe, körperlich spürbare Erschütterung. Es ist eine Musik der Wachheit, die den Teilnehmer in eine überweltliche Stimmung versetzt und seine Aufmerksamkeit an das Geschehen am Altar bindet.

Es gibt kleine und große Zeremonien, je nachdem, ob nur ein Einzelner vor dem Hausaltar dem Buddha gleichsam seine Stimme leiht, oder ob sich viele buddhistische Mönche und Nonnen im Inneren Bereich des Tempels drängen. Je größer die Zeremonie ist, um so sichtbarer wird, dass der sakrale Raum im Buddhismus ein Mandala ist. Darunter versteht man ein Bild oder ein Arrangement, das an den Weltkreis erinnern soll, so wie die alten Inder den Kosmos beschrieben. Der jeweils lehrende Buddha befindet sich im Zentrum des Mandalas. Ihn umgeben, in Gruppen geordnet (je nachdem ob es sich um Bodhisattvas, hohe Mönche oder Gottheiten handelt), seine Jünger. Dementsprechend nennt man in einem buddhistischen Tempel den Hauptaltar shumidan (須弥壇), „Weltenberg-Altar“.

Im EKŌ-Tempel steht auf dem „Weltenberg-Altar“ als „Allerhöchster“ ein Buddha Amida. Die Priester auf der rechten Seite des Inneren Altars rezitieren vor einem Bild Shinran Shōnins, des Begründers der Shin-buddhistischen Schule, der ihnen gewissermaßen als Anführer voransteht, die auf der linken Seite vor einem Bild Rennyo Shōnins, des achten Oberhaupts dieser Schule. Auf einem alten Taima-Mandala, d.h. einer bildlichen Darstellung einer Versammlung Amidas im Reinen Land, würde man auf dieser Position die Bodhisattvas Kannon bzw. Daiseishi sehen. Bei großen Zeremonien sitzen darüber hinaus in den Seitenbereichen, d.h. auf der Außenseite des Mandalas, Musiker. Zu solch hohem Anlass erklären die seitlich sitzenden Priester feierlich den Einzug des Buddha und der Bodhisattvas. Dann übernimmt der Zeremonienmeister die Rolle, die der Mönch Ānanda oft in den Sūtras spielt: er nähert sich dem Buddha auf rituelle Weise, lässt sich frontal vor ihm kniend auf dem Verehrungssitz (raiban 禮盤) nieder und spricht den Buddha förmlich an. Meist handelt es sich um die Erklärung des Festanlasses (hyō-byaku 表白) oder eine Lobpreisung der Sūtras.

In vielen buddhistischen Zeremonien Japans spielt das Sūtra vom Herz der Weisheit (hannyashingyō 般若心経) eine bedeutende Rolle, weil es die Formhaftigkeit und Bildlichkeit der Zeremonie wieder auf eine transpersonale bzw. transästhetische Ebene rückt: „Form ist Leerheit, Leerheit ist Form.“ Auf diesen Gedanken wird auch in Shin-buddhistischen Zeremonien vielfach hingewiesen, wenn z.B. vom „Licht der Weisheit“ die Rede ist. Die Predigt findet erst nach dem Ende der Zeremonie im Äußeren Bereich statt und wird – anders als die priesterliche Rezitation – in verständlicher Umgangssprache gehalten. Der Priester oder die Priesterin, die die Ansprache hält, soll eigene Gedanken zur Sprache bringen bzw. aus eigener Erfahrung etwas erzählen. In vielen Fällen werden die Teilnehmer abschließend noch zu einem gemeinsamen Tee oder Imbiss (otoki お斎) eingeladen.

Es ist wichtig, die buddhistische Zeremonie vom buddhistischen Lehrvortrag und von der Meditation abzugrenzen. Sie ist eine ganz eigene Form der menschlichen Kommunikation und vermittelt durch Bilder und Gesten etwas, was mit Worten nur ungenügend zu beschreiben ist. Darin gleicht sie wohl am ehesten der Musik.

Im Westen ist die buddhistische Zeremonie kaum bekannt, was sicherlich auch damit zu tun hat, dass die Räumlichkeiten fehlen. Wenn buddhistische Mönche in einem westlichen Konzertsaal Shōmyō-Gesang auf-führen, ist das nur ein Teil des Ganzen. Ein buddhistischer Tempel ist für die Durchführung ganz bestimmter Zeremonien entworfen, und darum besitzt jede buddhistische Schule ihren eigenen Tempeltyp. Man kann eine Zen-buddhistische Zeremonie eigentlich nicht in einem Shin-buddhistischen Tempel durchführen und umgekehrt. Darum ist es gleichsam das Schicksal des EKŌ-Tempels, nur für Shin-buddhistische Zeremonien geeignet zu sein. Da sein Stifter, NUMATA Yehan, aber buddhistisch-ökumenisch dachte, gibt es im Untergeschoss des Tempels die sogenannte Śākyamuni-Halle mit buddhistischem Universal-Altar, der es ermöglicht, zwischen mehreren Altarbildern zu wählen. Außerdem ist es dank Internetplattformen wie YouTube heutzutage möglich, authentische Zeremonien unterschiedlicher Schulen des japanischen Buddhismus kennenzulernen.