Hermann-Josef Röllicke: Die Unermesslichkeit des Buddha Amida
aus: EKŌ-Blätter Heft 32 (Herbst 2022), S. 4-5 pdf-Datei
Sanskrit amita bedeutet „nicht zu messen“. Das kann einerseits heißen, dass etwas so zahlreich oder winzig ist, dass niemand seine Zahl nennen kann; andererseits, dass das Maßhafte als solches durch keine Maßgröße oder Definition angegeben werden kann. Das nicht zu Messende wohnt allem Messbaren selbst inne. Als Name eines Buddha wird die abstrakte Unmessbarkeit zur allanwesenden Gegenwart dieses Buddha. Der Buddha in diesem Sinne heißt die Unermesslichkeit all der begrenzten und bemessenen Dinge und Wesen, z.B. die Unermesslichkeit jeder Note und jedes Rhythmus in der Musik, jedes Verses eines Gedichts, des gleichen Abstands zwischen Säulen. Darum können wir es als die Aufgabe aller Kunst erkennen, in ihrem Maß dennoch das Unermessliche zu offenbaren.
Wenn in einem Zen-kōan des Mumonkan Tōzan auf die Frage eines Mönchs, als wie und was er „diesen“ Buddha positiv bestätigen könne, antwortet: „als drei Pfund Hanf“, dann nennt diese Antwort mit Hilfe einer Maßgröße den durch kein Maß anzugebenden Buddha. Nichts begegnet, das nicht Buddha wäre. So können wir denken: Mit „diesem“ Buddha kann nur der Buddha Amida gemeint sein.
Fast 90.000 Mal wird im chinesischen buddhistischen Kanon gesagt, etwas oder jemand besitze an etwas so viel, dass es mit keinem Maß angegeben werden kann. Der Buddha besitzt von seinen Gütern in einer unversieglichen Fülle und verschenkt sie grenzenlos an alle Wesen. Sein Geschenk gibt er so reich und unparteiisch überallhin, dass es die menschliche Fähigkeit, es in Quantitäten auszudrücken, überfordern würde.
Neben der Lautumschreibung ist der Name dieses Buddha auch dem Sinn nach übersetzt worden. Dasjenige, an dem er ohne Maß besitzt, ist dann in seinem Namen mitgenannt: das eine Mal āyus, „Leben“, das andere Mal ābha, „Lichtglanz“. Daher rühren die auf Japanisch „Muryō-ju Butsu“ und „Muryō-kō Butsu“ ausgesprochenen Namen: „Buddha des Unermesslichen Lebens“ und „Buddha des Unermesslichen Lichtglanzes“. Mit „Leben ohne Maß“ ist letztlich gemeint, dass das Leben des Buddha keine Grenze hat, also keinen Tod je sieht. Wo ein Leben von keinem Tod berührt ist, auch wenn es stirbt, dort ist dieses Geschehen „Amitāyus“. Wo ein Gewahrwerden von nichts Falschem berührt ist, obwohl wir doch irrende Menschen sind, ist dieses glanzvolle Geschehen „Amitābha“. Das Erwachen inmitten der Bedingtheiten aller Leiden und Dunkelheiten unseres Geistes eröffnet einen „unendlichen“ Raum aus Freiheit und Klarheit.
Dieser Raum ist nichts Anderes als das „Reine Land“ dieses Buddha. In der Mythologie dieser Tradition wird immer wieder durch eine Maßgröße gesagt, wie weit entfernt dieses Reine Land liege: im Westen, wo die Sonne untergeht und uns auf Abschied von Tag und Licht konzentriert. Im „Kleinen sūtra“, dem Amida-kyō, sagt der Buddha: „Von hier nach Westen 100.000 koṭi von Buddhaländern überquerend, gibt es eine Welt mit Namen ‚Höchste Freude‘.“ Auch hier ist eine Maßgröße gegeben. Sie ist so sehr ins Unermessliche gesteigert, dass dieses Land auf keiner physischen Karte zu finden wäre. Der koreanische Mönch Wŏnhyo hat dazu einen Kommentar mit dem Titel „Der Weg der stillen Freudigkeit des wandernden Herzens“ geschrieben. Das macht klar, dass das Reine Land des Buddha Amida eine Region im inneren Kosmos des Herzens sei. „Gerade jetzt in diesem Augenblick spricht ein Buddha mit Namen Amida in jenem Land den Dharma dar.“ Den Namensanruf dieses Buddha anzustimmen, heißt darum, seine grenzenlose Allanwesenheit zu hören.
Warum betont das sūtra, dass Amidas Land der Höchsten Freude in so unermesslicher Ferne liege? Es scheint zu sagen: Solange wir selbst das Maß setzen, liegt es unermesslich fern. In der unmittelbaren Gegenwart des Namensrufs aber ist alles Nah und Fern zerschmolzen. Was im Sterben den Tod durchbricht, wird hier zu einem Erwachen aus dem Schlaf. Es trägt seit 2000 Jahren von Indien bis Japan den Namen „Amitāyus“. Hier hat eine große Tradition einmal erkannt und nicht mehr vergessen, dass es dieses Ereignis in Wahrheit gibt. In der vertrauenden Hingabe und restlosen Überstellung des Lebensgeistes in die Hände dieses Erweckenden tritt es aus seiner Verborgenheit lichtvoll hervor.
Der vielfach wiederholte Ruf, in dem dies im Ritus Gegenwart findet, lautet auf Japanisch: „Namu Amida Butsu.“ Das alte indische Wort „Namo“, das überall in der unersetzbaren Ehrwürdigkeit des Sanskritklangs beibehalten wurde, intoniert dieses Übergangsgeschehen, die „Hingeburt“ in das Reine Land dieses Buddha. Die andere Namensform, „Lichtglanz ohne Maßen“, ist in ihrer kulturgeschichtlichen Entfaltung komplexer. Grundsätzlich gilt: Schon weil die Grundlehre des Buddha, die Lehre von der „Bedingten Entstehung“, in ihrer letztgültig formulierten Gestalt mit der „Lichtlosigkeit“, avidyā, der „Unsehendheit“, dem „Nichtverstehen“ als der tiefsten Ursache alles Ungemachs, Kummers und aller Not beginnt, gehört die Ausbreitung des die innewerdende Erkenntnis ermöglichenden Lichts in der Unermesslichkeit seines strahlenden Glanzes auch zur ganzen grenzenlosen Unermesslichkeit der Freiheit von Ungemach, Kummer und Not.